Die Freiheit der Randexistenz

Anmerkungen zu Günther Anders: Jetzt erschienen seine »Tagesnotizen«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Diese Aufzeichnungen 1941 bis 1979, nun erstmals in einer kleinen, chronologisch angelegten Auswahl veröffentlicht, sind wie ein Querschnitt durch Anders' Werk. Er schreibt über sich, schreibt über den Tag, über Wahrnehmungen auf Reisen zwischen Auschwitz und Alaska, Tokio und Wien - und gleichsam mit allen Sinnen ist die fiebrige Erregtheit zu spüren, die den Schreibenden von sich selber wegführt, ins dunkle Innere einer nicht heilbaren Welt. Exil und Rückkehr, Heimat und Bodenlosigkeit, Krieg und Frieden: Anders leidet unter den Sprengungen alteuropäischer Maßverhältnisse; er steht, wohin er seine Schritte lenkt, an den Klüften einer verlorenen Zeit. Der 1902 in Breslau geborene Philosoph, der bei Heidegger und Husserl studierte, war in seinen Texten, Glossen und Stenogrammen der aufreizendste Diagnostiker des Widerspruchs technischer Zivilisation: zwischen unvollkommenem Menschen und dessen Wahn, technische Vollkommenheit zu erlangen. Anders - 1929 Heirat mit Hannah Arendt, Emigration in die USA, dort Trennung von seiner Frau - behauptete die unglückliche Differenz zwischen der Vorstellung, die der Mensch von sich hat, und den zerstörerischen Praktiken, die dieser Fantasie entspringen, bis in den Tod hinein. »Einfache Sterbefälle sind bereits altertümliche Raritäten. Zumeist wird der Tod - hergestellt.« Aus der schmerzhaften Einsicht, solch seelenloser Vollkommenheit der Dinge nicht mehr gewachsen zu sein (die mit der Atombombe ihren erschreckendsten Ausdruck fand), keimte bei diesem Denker »prometheische Scham«. In seinem zweibändigen Hauptwerk »Die Antiquiertheit des Menschen« (1956, 1980) steht der Satz: »Zerbomben könnten wir Hunderttausende - beweinen nicht.« Der Apparat, das Wissenschaftsprodukt - das sind die beständigen, resistenten Begabten der Moderne, der Mensch ist nur ein »verderbliches »Einzelstück« Wir verfügen nicht, wir werden verfügt. Entmachtete sind wir, Analphabeten der Angst. Unser Dasein - eine fröhliche Blindheit an Abgründen, eine Spezies, der Günther Anders auch in seinen Tagebüchern jede Tröstung versagt, jede Gnade eines metaphysischen Aufgehobenseins: »Ängstige deinen Nachbarn wie dich selbst.« Die Verheerungen des televisionären, des virtuellen, des High-Tech-Zeitalters: Er hat sie beschrieben, hat sie hochgerechnet - mit dem Mut zum Ausrufezeichen und zum Pathos einer bittren Intelligenz, die keinem Idealismus mehr traut. Spätestens seit Hiro- shima ist nicht nur alles gleich nichtig, sondern alles gleich vernichtbar, wir mutierten zur »Gruppe, deren Existenz nur bis auf Widerruf gestattet ist«. Jenes instrumentale Denken, das Auschwitz und die Atombombe betrieb, sei, so Anders, Allmacht und Defekt zugleich. Dieses Denken wirkt für ihn nicht nur lebensbedrohend durch seine unaufhaltsame Besetzung alles wissenschaftlich Erkundbaren und technisch Machbaren - es ist von gleichem Auswuchs ein borniertes Denken, das sich auf der Höhe der Zeit sieht, aber ihm widersprechendes Denken rigoros maßregelt. Der resignativen Analyse dieses Günther Anders doch trotzig beigemischt: der Wunsch, keine der eigenen Prognosen über die mögliche Selbstauslöschung des altertümlichen Menschen möge Recht behalten. So demonstriert dieser Avantgardist des Leidens durch sein späteres eigenes politisches Engagement (Vietnam, Ostermärsche) auf positive Weise jenen tragischen Widerspruch, der uns allen eingeboren scheint: sich in praxi nicht an die eigenen Einsichten zu halten und statt dessen gegen das bessere Wissen zu handeln. Anders, so der Dichter Günter Kunert, »agiert namens seiner Hypothese höchst dialektisch: indem er sie aktiv zu widerlegen versucht.« Er sei ein Panikmacher, so Anders über sich selbst. Die Radikalität seines Denkens arbeitet mit rücksichtsloser metaphorischer Übertreibung. In Auschwitz wurden Menschen getötet? Nein. »Zu sprechen hast du von dem Material, das, der Maschine zur Verarbeitung zugeliefert, die ungewöhnliche Eigenschaft besessen hat, sehen, hören und fühlen zu können.« Solche Überspitzung will die Vorstellungskraft aufschreckend besetzen, und diese Methode machte den Mann zu einem Philosophen, der das Schicksal jeder Wahrheitsvermittlung zu tragen hatte: Der Überbringer schlechter Nachrichten wird mehr geächtet als die Nachricht selber. So erlebte Anders Werk »nur« zyklische Wirkungen, blieb verlässlich modefrei und wurde nicht selten just deshalb als »antiquiert« verhöhnt. Am Leben dieses Intellektuellen ist abzulesen, was ein unabhängiger Geist ist: einer, der nie in Synchronität mit Stimmen einer Machtgruppe verfällt. Die Chance des Philosophen besteht nach Anders in dessen Unfähigkeit, das Wort »selbstverständlich« zu begreifen. Seine Tugend: »die Fähigkeit, diese Unfähigkeit allen Anfechtungen des Alltags zum Trotze durchzuhalten. Jedes Denksystem, jede politische Ordnung, und sei beides noch so verführerisch in humaner Grundierung: stets nur ein Grund zur Distanz. Das Ergebnis solch einer konsequenten Abstinenz von den gedanklichen Erleichterungen und Vereinfachungen: die lobbylose, aber freie Randexistenz: »Verbannt werden immer nur lesbare Autoren.« Ein Stolz mit genetischer Ursache: Der jüdische Vater, deutscher Patriot, sah 1933 sein Weltbild stürzen, aber das jüdische Erbteil leugnete er nicht und weigerte sich, wegen einer Professur »eine kleine Formalität« zu erledigen. Auch Günther Anders träumte, etwa von einer musischen deutschen Laufbahn; aus grotesken Illusionen musste er jedoch aufwachen, und gewiss speist sich jede verzweiflerische Philosophie, welche die Welt meint, auch aus schlimmen Erfahrungen des eigenen Lebens. »Wer in sich selbst hineinschaut der findet auch die anderen und auch die Welt; wer über sich selbst Rechenschaft ablegt, der legt damit auch über die anderen Rechenschaft ab.« Anders Freiheit im Begreifen, sein Misstrauen gegenüber Antworten, deren Ziel es ist, Fragen zu verhindern - dies Ethos liest sich wie eine Warnung an Menschen, die sich mit Argumenten der Ehrbarkeit ins politische Geschäft mischen. Das jedoch in einer Zeit, in der das wahre Politische schlaff in den Zügeln der Betriebsamkeit hängt; im Gewerbe bloßer Durchsetzung von Partikularinteressen wird höher ansetzende Gestaltungskraft nicht mehr benötigt. »Wenn du dich darauf einlässt, ein moralisch dubioses Amt zu übernehmen, und diesen Schritt etwa mit den Worten rechtfertigst, damit kein Schlimmerer diese schlimme Funktion ausübe, dann bist du verloren. Morgen wirst du genötigt sein, die Prinzipien deiner Tätigkeit zu propagieren. Und übermorgen dazu, an diese Prinzipien auch wirklich zu glauben. Widerstehe Anfängen.« Der Philosoph, der 1992 in Wien starb, hat mit seinen Tagebüchern Fragmente tiefer Skepsis hinterlassen. Gesammelte Verzichte auf Ausführlichkeit, und in ihrer Konzentration doch sehr genaue Nachrichten vom losgerissenen Menschen - der alles träumt und sich im Nichts erschöpft. Günther Anders: Tagesnotizen. Bibliothek Suhrkamp. 196 S., geb., 13,80 EUR.
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